Schlaflos in Seattle

Das kann man so sagen.  Als ich vorhin um 14.30 Uhr in den Greyhound Bus gestiegen bin, der mich von Seattle zurück nach Vancouver und dann nach Edmonton bringt, bin ich mit meinem kleinen Rucksack geradewegs auf die letzte Reihe zugesteuert, habe mich in den Sitz plumpsen lassen und bin noch während ich den Kopf auf meinen Rucksack neben mir hab fallen lassen, eingeschlafen. So kam es mir zumindest vor. Das mag zum einen an der pausenlos strahlenden Sonne gelegen haben als auch an den viiiiiiielen Unternehmungen kombiniert mit den kurzen Nächten der letzten Tage. Es waren fünf wahnsinnig tolle Tage, die ich jederzeit genauso durchleben würde. Where to start?

 

Nachdem ich letztes Wochenende mit Wesley, einem Freund, in Vancouver verbracht habe, kam mir spontan die Idee, eine Freundin von meinem Bruder Benni, die er aus seiner Kalifornien-Highschool-Zeit kennt, zu besuchen. Eigentlich hatte ich diesen Besuch für die Zeit angedacht, wenn ich meine Arbeitserlaubnis erhalten habe, da ich dann sowieso die Grenze zu den USA überschreiten muss, um zwei Minuten später mit dem Arbeitsvisum in der Hand wieder kanadischen Boden zu betreten. So eine unnötige Bürokratie. Aber das Thema hatten wir schon. Ich hatte gehofft, mein Arbeitsvisum würde mich diese Woche per Mail erreichen und dann hätte ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Amy und Seattle besucht in Kombination mit der Visumsumschreibung an der Grenze. Doch leider gibt es weiterhein kein Zeichen seitens der Botschaft…Im einer Woche sind die maximal angegebenen acht Wochen verstrichen, also sollte es die nächsten Tage losgehen.

 

 

Sobald ich in Vancouver angekommen bin, werde ich die Buslinie 008 nach Hause nehmen. Wesley ist schon fleißig am Lachs zubereiten, yummyyyy. Morgen früh haben wir einen Angeltrip geplant, wahrscheinlich Richtung Squamish im Norden von Vancouver. Wir dürften eine gute Chance auf Regenbogenforelle haben…Wesley hat neben einem deutschen auch einen kanadischen Angelschein (kann man einfach im Internet kaufen, ohne einen Kurs zu besuchen). Ich freu mich total drauf und bin gespannt, wieder etwas Neues zu lernen. Denn wie die meisten wissen, bin ich eher ein Laie im Angeln.

 

Letztes Wochenende waren Wesley und ich Freitag Abend im Police Museum bei einer Filmnacht, auf der eine Dokumentation über die „Great depression“ in den 1930ern gezeigt und die Folgen für Vancouver besprochen wurden. Viele Menschen sind damals nach Vancouver gekommen, um Arbeit zu finden. Und viele Menschen verloren ihr Dach über dem Kopf. Auf meine Frage an den Regisseur, wie er die Obdachlosigkeit in Vancouver heute im Vergleich zu damals sieht, habe ich eine ausweichende, keine Stellung beziehende Antwort erhalten. Aber auch das war eine Antwort. Danach haben wir den Abend bei einem Bierchen in Gastown nett ausklingen lassen.

 

Am Samstag waren wir bei einem Pferderennen in Hastings. Hastings, besonders East Hastings ist der Stadtteil in Vancouver mit den meisten Obdachlosen. Drogen, Alkohol, Arbeitslosigkeit, Hungersnot. Kein schöner Anblick. Sowieso kommt es mir so vor, als ob Vancouver ein großes Problem mit Obdachlosigkeit hat. Für die Olympischen Spiele 2010 hat ein Großteil der sogenannten „Hobos“ (= Homeless boys) Freikarten für die Fähre nach Vancouver Island erhalten und wurde für die Dauer der Spiele auf „eine der schönsten Inseln weltweilt“ verbannt. Ist das nicht absurd? Zurück zum Pferderennen. Dort haben wir einen Kollegen von Wesley, seine Frau und weitere Freunde getroffen und reichlich gewettet. Ich habe 40 Dollar gewonnen mit einer Triple Box-Wette, d.h. welche drei Pferde die ersten drei Plätze erreichen. Und siehe da! 

 

Sonntag waren wir auf einem Baker´s Market in unserem Viertel und dann am Jericho Beach, chillen, Sonne tanken und vor allem Stand up Paddlen. Wie cool ist das denn? LOVE IT! Ich hätte ewig in der English Bay vor der Skyline von Vancouver Downtown auf dem Brett balancieren und paddlen können. Und mit dem Wetsuit war das Wasser mehr als erträglich. Danach haben wir einen weiteren traumhaften Sonnenuntergang angeschaut, bevor ich zu Hause Bannock für uns zubereitet habe. Ein uraltes Brotrezept der First Nations, das in der Pfanne zubereitet wird und beliebig gefüllt werden kann. Wir haben Hühnchen, Avocado, Paprika und Tomate gewählt. Eigenlob stinkt, aber es ist mir verdammt gut gelungen.

 

 

 

Ich hatte einen sehr schönen letzten Tag in Vancouver. Strahlender Sonnenschein, 30 Grad und eine Kajaktour in Begleitung eines Seehundes auf dem Deep Cove Inlet in North Van. Eigentlich wollten wir angeln gehen, aber Wesley hatte seine Angel zu Hause vergessen, also haben wir spontan eine Kajaktour daraus gemacht.

 

Montag früh habe ich um 5:50 Uhr den Bus nach Seattle genommen und wurde um 10:15 Uhr von Amy an der Busstation abgeholt. Es fühlte sich ein wenig wie ein Blind Date an. Ich kannte sie nur von Fotos und von den Nachrichten, die wir uns geschrieben hatten. Um sie kurz und knackig zu beschreiben: AMAZING Amy. Vom ersten Moment an haben wir uns wunderbar verstanden. Schon nach dem Frühstück (sie hat mich in das „beste“ Frühstückslokal Seattles“ entführt – eine Stunde Wartezeit Minimum) hatten wir alle notwendigen Informationen, wie Up and Downs in unserem Leben, Lovestories, Sorgen, Pläne, Ideen und Träume ausgetauscht. Und dann ging das Sightseeing-Programm los. Und wieder durfte ich den Luxus erfahren, mit einem Auto von A nach B kutschiert zu werden und dabei von einem privaten Tourguide erstklassige Infos über die Stadt zu erhalten. Träumchen. Amy lebt seit über drei Jahren in Seattle und arbeitet als Sprechstundenhilfe in einer physiotherapeutischen Praxis. In zwei Wochen zieht sie zurück nach Kalifornien, wo sie geboren ist (Bakersfield), da sie Heimweh hat und einen Tapetenwechsel braucht.

 

Nach dem Brunch und einer kurzen Citytour durch die Neighbourhoods von Seattle haben wir uns in die bunten und verrückten Menschenmassen am Seattle Center begeben, die den Memorial Day zelebriert haben, ein Nationalfeiertag zu Ehren aller Kriegsveteranen und gefallenen Soldaten. Den Kontext zwischen Krieg und verkleiden, tanzen, singen, Livebands, Drogen, kulinarischen Spezialitäten und Gewinnspielen habe ich zwar nicht verstanden und ich muss sagen, dass ich vor den meisten Gestalten eher Angst hatte als dass ich das freudig-wilde Miteinander vollends genießen konnte, aber eine Erfahrung war es allemal wert. Danach haben wir uns auf Seattles Underground-Pfad begeben. Das war mehr als beeindruckend. Seattle ist ähnlich wie San Francisco sehr hügelig und aufgrund dauerhafter Überschwemmungen musste ein Teil der Stadt nahe der Waterfront „eine Etage höher“ gelegt werden, das heißt Straßen und Gehwege wurden um das Jahr 1900 einfach angehoben. Es gibt heute noch ein großes Transit Tunnel-Netzwerk, in dem Busse verkehren. Die meisten Bars und Geschäfte und Wohnungen sind jedoch nicht mehr in Betrieb. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn man über Seattles Pflaster läuft und sich vorstellt, dass das Leben bis vor ca. 115 Jahren ausschließlich unter einem stattgefunden hat und alles um einen herum schlichtweg eine Etage tiefer gelegen war.

 

Abends haben wir einen netten Girlie-Abend veranstaltet. Pizza, Wein, DVD. Was will man mehr?

Da Amy die nächsten Tage arbeiten musste, habe ich die Tage über Seattle und Umgebung alleine erkundet und die Abende mit Amy verbracht.

 

Kurz zu Seattle: Seattle liegt 155 km südlich der kanadischen Grenze im US-Staat Washington und zählt knapp 640.000 Einwohner. Es ist die größte Stadt im sogenannten King County. Die Stadt hat eine Manhattan-ähnliche Skyline, die Skyscraper sind bis zu 1.000 Fuß oder 305 m hoch, wie das Colombia Center, das höchste Gebäude westlich des Mississippi.

Gleichzeitig hat die Stadt eine Waterfront, die sich absolut sehen lässt, den Puget Sound, der in den Pazifischen Ozean übergeht. Auch an Seen mangelt es der Stadt nicht, Lake Union und Lake Washington sind nur zwei der Seen, die viele Möglichkeiten an Wassersportaktivitäten oder Strandtagen bieten. Nicht zu vergessen das kulturelle Angebot, von Improvisationstheater über das North West Ballet über die Seattle Opera und die vielen Museums-Angebote, das EMP, Experience Music Project Museum, das die Musikgeschichte, insbesondere des Rock´n´ Roll beherbergt, und gleichzeitig Einblick in die Science Fiction Welt bietet.

 

Dann sei noch der Pike Place Market erwähnt, ein Farmer´s Market, der erstmalig 1907 eröffnet wurde und seitdem immer wieder Unterstützungsmaßnahmen von Privatpersonen wie auch seitens der Regierung zur Aufrechterhaltung erhält. Local and fresh food lautet die Devise. Äpfel, Bananen, Himbeeren, Blaubeeren, Mangos, Spargel, lila Zucchinis, Kürbis, Kartoffeln, frischen Lachs, Forelle, Muscheln, Scampi, Käse, Öl, feinste Backwaren, in Schoki gewickelte Kirschen, frischer, alkoholfreier Apple Cider, Corn Dogs (Würstchen in Maismantel). Hier findet man alles. Auch Buch- und Antiquitätenhändler, Zauberer, Straßenkünstler, Schmuckliebhaber und viele mehr haben hier ihr Plätzchen. Ein turbulentes Treiben, das Spaß macht!

 

Am Dienstag war ich in der Zentralbibliothek von Seattle und habe mir eine Preview zu dem nächsten North West Ballet angeschaut. Ich hatte eine Live-Performance erwartet. Stattdessen wurden einige Szenen aus dem Ballett, das ab diesem Wochenende in Seattle aufgeführt wird, auf einer Leinwand gezeigt und diskutiert. Idee und Intention des Verfassers, Musik, Kreativität und die finale Umsetzung als Ganzes wurden von einem „Experten“ auseinandergenommen. Das war sehr interessant.

 

Ansonsten bin ich viel durch die Stadt geschlendert, vom International District (in dem China, Korea, Japan und Vietnam „regieren“) über das niedliche Viertel Pioneer Square, über das homosexuelle Viertel Capitol Hill bis hin zur Waterfront. Am Mittwoch habe ich eine Fähre nach Bainbridge Island genommen. Um die Insel zu erreichen, durchquert die Fähre den Puget Sound eine halbe Stunde Richtung Westen. Allein die Fährfahrt ist der Ausflug wert. Der gigantische Blick auf Seattle Downtown ist einmalig. Bainbridge Island zählt 22.000 Einwohner, ein paar nette Strände, ein kleines „Downtown“ und viele naturbelassene Wandermöglichkeiten.

 

Abends war ich mit Freunden von Amy im Stadion und habe die Seattle Sounders angefeuert. Nach dem 1:0 (Endstand) war die Stimmung bombastisch und das halb geöffnete Stadion mit Seattles Skyline im Hintergrund hat getobt. Ich habe weniger das Spiel verfolgt, als viel mehr die Atmosphäre und die gigantische Aussicht genossen. Da Amy länger arbeiten musste, hat sie ihren Freund William gefragt, ob ich ihn und seine Freunde zum Fußball begleiten könnte. Ein weiteres Blind Date, aber wir haben uns zum Glück ohne Probleme gefunden und hatten einen spaßigen Abend, der in einer Schwulen-Bar in Capitol Hill geendet ist.

 

Ein weiteres Highlight in Seattle ist die University of Washington, eine eigene kleine Stadt, wenn man es so beschreiben will. Ein Bus-Netzwerk, diverse Fahrradstationen, eigene Restaurants und Cafés, mehrere Bibliotheken, Sportplätze und unzählige Gebäude aus unterschiedlichen Architektur-Epochen (das modernste Gebäude beherbergt die International Business-Studiengänge). Stolze 44.000 Undergraduates und Graduates beherbergt die Uni und gilt als eine der renommiertesten Universitäten der Staaten. Die kostenlose Führung eines Studenten hat es uns ermöglicht, einen Teil des Geländes kennenzulernen und ein paar Informationen zum Studieren in Seattle zu erhalten.

Der Abschied von Amy war irgendwie komisch. Wir kennen uns seit fünf Tagen. Anfühlen tut es sich wie fünf Jahre. Man sieht sich zum Glück oft zweimal im Leben. 

  

Jetzt sitze ich mittlerweile im Greyhound Bus, nun allerdings auf dem Weg nach Edmonton, um von dort aus eine weitere Saison als Reiseleiterin für Timberwolf Tours zu arbeiten.

In Edmonton (genauer gesagt Spruce Grove, 25 km westlich von Edmonton) nächtigen alle Guides kostenlos auf dem Gelände von Timberwolf Tours, entweder in Mehrbett-Zimmern oder in Zelten, wann immer wir nicht auf Tour sind. Das ist zum einen eine große Kostenersparnis und zum anderen gesellig. Ich freue mich so sehr auf die Saison, die vielen neuen Menschen und Gesichter, die Natur und Aktivitäten - was habe ich bloß für einen Traumjob.

 

Eure Lotti